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Thilo Folkerts, Città come Natura – L’idea di Stadtnatur a Berlino
In: Luigi Latini, Lorenza Gasparella (Hg.), Coltivare la selva
Mimesis Edizioni, Milano 2023
ISBN 9791222304946
DOI10.7413/1234-1234020
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Serie Sylva
Stadt als Natur: Eine Idee von Stadtnatur in Berlin
Natur bezeichnet für viele zunächst ein Gegenprinzip zur Zivilisation. Natur und Landschaft werden als Ausgleich zur Stadt wahrgenommen; Grün steht gegen Grau. Aber natürlich sind die Begriffe komplexer und die Lebensrealitäten vielschichtiger. Natur ist nicht Wildnis. Der Umgang mit ihr ist zentraler Ausdruck von Kultur und Gesellschaft. Und mehr noch: Natur ist trotz ihrer eigenen, schwer zu beherrschenden Dynamik, Teil der menschlichen Lebenswelten. Wie diese unterliegt sie permanenter Entwicklung und Veränderung.
In Berlin hat sich in den letzten rund fünfzig Jahren eine viel beachtete Idee von Stadtnatur entwickelt, die zwischen den Städten international eine eigenständige Entwicklung darstellt. Hierfür stehen eine große Anzahl verschiedener Freiraum- und Städtebauprojekte, deren Präsenz und auch internationale Bekanntheit nicht neu ist. Einzelne, unterschiedliche Berliner Freiräume und Landschaftsarchitekturprojekte nahmen und nehmen durchaus prominente Positionen im fachlichen Diskurs – wie auch im Gespräch in der Stadt – ein. Aufmerksamkeit erfahren beispielsweise der Park am Gleisdreieck (spätestens seit der Eröffnung des Westteils 2013), die auf einer Brache kultivierten Kreuzberger Prinzessinnengärten am Moritzplatz (zumindest bis zu deren Umzug 2019 im Zuge der dort fortschreitenden Stadtteilentwicklung) oder das Tempelhofer Feld, bei dem mit dem Referendum zur Freihaltung und Belassung der immensen Flächen (“100% Tempelhofer Feld”, 2014) auch eine spezifische Berliner Wertschätzung und Ästhetik der öffentlichen Freiräume einen Wahlerfolg errungen hat. Die nun fast unberührte landschaftliche Weite des ehemaligen Flugfeldes ist inzwischen zu einem Signaturbild der Stadt Berlin geworden. Der Natur Park Schöneberger Südgelände ist seit 2000 internationales Referenzprojekt für die erfolgreiche Kombination von Parknutzung und Naturschutz im städtischen Kontext.
Aber die Besonderheit der Landschaftskultur Berlins geht über einzelne, durchaus sehr unterschiedliche Signaturprojekte hinaus und verzweigt sich kulturell und disziplinär. Es scheint daher angebracht diese einzelnen Freiräume als Teil einer breiteren Kultur des öffentlichen Raums zu lesen.
Umfassende Freiräume und urbane Zwischenräume werden in der im europäischen Kontext sehr jungen und extrem schnell gewachsenen Großstadt Berlin spätestens mit der formalen Großstadtwerdung in den 1920er Jahren als systematische städtische Freiraumstrukturenwertgeschätzt. Hierzu gehört die spezifisch berlinische Geschichte des Dauerwaldvertrages und damit des immer noch die Siedlungen durchdringenden und die Stadt vor allem im Westen und Südwesten umschließenden städtischen Waldgürtels, mit dem Grunewald als prominentestem Beispiel. Der Vertrag von 1915 wurde “in einem zähen Kampf der Stadt und ihrer Bürger dem Staat Preußen abgerungen (…) mit dem Ziel „der wachsenden Bevölkerung der Reichshauptstadt für die ferne Zukunft die Gelegenheit der Erholung und Erfrischung im Freien und Walde zu sichern.” (…) “Das 1920 geschaffene, von 3,8 Millionen Menschen bewohnte Groß-Berlin umfasste eine Fläche von 88.000 Hektar, 21.000 davon Wald.” Diese frühe Grundlegung einer strukturellen Verwebung von Natur und Stadt in Berlin spricht von einem lebhaften bürgerschaftlichen Interesse an einer städtischen Natur. Der Wald, als germanischer Mythos vielschichtiger Teil der Kultur, steht hierbei als Schutzraum sowohl für einen Grad an erfahrbarer Ursprünglichkeit, also Wildnis, als auch als gemeinschaftlich nutzbarer Lebensraum des Stadtmenschen.
Mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen geopolitischen Umbrüchen entsteht eine fragmentierte Stadtstruktur voller offener Räume und Brachen. Das Vokabular der städtischen Freiräume wird um Baulücken in vormals dichten Stadtblöcken und in ehemaligen Industriegebieten erweitert, sowie um die durch Krieg und Teilung entstandenen immensen Bahnbrachen eines der vormals wichtigsten Eisenbahnknotenpunkte Europas. Berlins besondere politische Situation führte dazu, dass viele dieser Freiräume langfristig erhalten blieben und zu einem allgegenwärtigen, charakteristischen Bestandteil des Stadtbildes wurden.
Mit der Etablierung des deutschlandweit ersten Instituts für Ökologie an der Technischen Universität in West-Berlin 1974 durch Herbert Sukopp, bildet sich nicht nur auf gesamtgesellschaftlicher Ebene eine wichtige, sich der Umwelt verpflichtende Veränderung ab. In Berlin wird mit der Stadtökologie eine neue Forschungsdisziplin entwickelt. Denn nicht ausschliesslich eine möglichst natürliche Landschaft wird in Berlin zum Lehr- und Studienobjekt der ökologischen Forschung, sondern die Natur in der Stadt, zwischen den Häusern – mit einem Fokus auf die dynamischen Veränderungsprozesse ruderaler Spontanvegetation im unmittelbaren städtischen Lebensumfeld.
Nach Mauerfall 1989 kommen nochmals weitflächig die strukturell vernetzten Leerräume hinzu, die zwischen den beiden Städten und politischen Systemen verblieben waren. Hierzu gehören neben dem Mauerstreifen viele andere Räume, deren historische Funktionalität sich grundlegend änderte, wie Flughäfen, Militärgelände oder Reste plötzlich überkommener Infrastrukturplanungen. Viele dieser Orte befinden sich heute nach wie vor im Brachenzustand, einem Zustand der in Berlin – wohl anders als andernorts – immer eine ästhetische und soziale Möglichkeit darstellt.
Die Berliner Natura Urbana, den Filmtitel der beiden Geographen, Urbanisten und Kulturkritiker Matthew Gandy und Sandra Jasper zitierend, ist somit interdisziplinäres Forschungsfeld, vor allem aber auch Feldversuch urbanen Lebens, und zwar mit einer umfassenden zeitlichen und räumlichen Dimension. Matthew Gandy vermutet die ästhetische Präsenz von urbanen Zwischenräumen, Brachen und Baustellen im Alltagsleben der Berliner als historisch verwurzelt und verweist auf Gemälde des Realismusmalers Adolph Menzel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Verweis muss an dieser Stelle zunächst als Vermutung historischer Tiefe gelesen werden, was ihn jedoch nicht minder interessant macht.
Die dezidiert städtische „Stadtnatur“ ist hier jedenfalls nicht nur akademische Stadtökologie, sondern gemeinsam gelebte Freiraumkultur, als Teil des Wesens der Stadt. Die Freiräume, von denen die meisten durchgehend, also auch nachts offen sind, sind niederschwellig betretbar, benutzbar, (an)fassbar. Der Umgang mit ihnen ist unmittelbar. Berührung, Bespielung, ein hoher Grad an sozialer Aneignung und Freiheit der Nutzungen sind in Berlin wesentlicher Aspekt der individuellen Nutzung des Freiraums. Privater, gemeinschaftlicher und öffentlicher Lebensraum sind miteinander verschränkt.
In den letzten dreißig Jahren sind neben den vorhandenen, sich weiterentwickelnden Brachflächen und urbanen Zwischenräumen eine Vielzahl unterschiedlicher Parks und Freiräume auch „offiziell“, als Teil des kommunalen, öffentlichen Raums geworden. Sie sind unterschiedlich in Grösse und Charakter, in Form und Funktion; unterschiedlich in Bezug auf die jeweilige Geschichte und räumliche Typologie. Die umfängliche Studie Greening Berlin(2015) des Soziologen Jens Lachmund ist eine erhellende Erzählung der strukturellen Zusammenhänge des Werdens und Machens solcher Berliner Freiräume. Im Wesentlichen für den Zeitraum nach dem zweiten Weltkrieg legt Lachmund die historischen, wissenschaftlichen, politischen und sozialen Bedingungen und Einflüsse der „Ko-produktion“ urbaner Natur detailliert dar. Jedoch geht das Buch nicht weiter auf die Rolle von Gestaltung und Landschaftsgestaltern ein. Teil der Besonderheit der Berliner Freiraummischung ist aber gerade auch die gestalterische Haltung und Herangehensweise, die sich als Beitrag und Ergebnis dieser Ko-Produktion entwickelt hat. Bei allen individuellen Unterschieden der jeweiligen Gestalter findet sich fast überall eine sehr individuelle gestalterische Reaktion auf die örtlichen Gegebenheiten, die Einbeziehung von Bürgern und Bürgerschaftlichkeit und ein dezidiert sorgfältiger Umgang mit den ökologischen Faktoren des Ortes, insbesondere der oftmals vorhandenen, spontan entstandenen Vegetation. Ein fast überall zu findender gestalterischer Minimalismus ergibt sich fast zwingend angesichts der Herausforderungen der schieren Umfangs der Flächen. Öffentlicher Nutzungsdruck, Betreuung, Pflege und Wartung in ihrer einfachsten, reduzierten Form, sind hier Realitäten der Gestaltungsstrategien. Auch daraus folgt eine eher vorsichtige Ökonomie des gestalterischen Eingriffs.
Landschaftsarchitektonische und architektonische Experimente zum Verhältnis von Stadt und Ökologie laufen in Berlin spätestens seit der Internationalen Bauausstellung IBA ’87 . Viele der durchaus erfolgreichen Versuche sind nach wie vor zu besichtigen. Eine wichtige Rolle spielte hier der bis 2005 tätige Hochschullehrer und Landschaftsarchitekt Hans Loidl (1944-2015). Mit seiner Lehre und Gestaltungen aus seiner Hand in den 1980 und 1990 Jahren, somit an der Schwelle einer urbanistischen Zeitenwende, wurden Projekte realisiert (jedoch bis heutzutage nicht zusammenfassend publiziert), die in vielerlei Hinsicht wesentliche, den Berliner Freiräumen auch heute noch zugrunde liegende Themen in sich tragen: feinsinniger Umgang mit dem Ort und seiner – auch sozialen – Morphologie (Wegeverbindungen, Raumtrennungen), eine Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Verhältnis von Ökologie und Gestaltung, sowie der Verwendung von einfachen, „landschaftlichen“ Gestaltungsthemen, die – Beispiel dichte Birkenwäldchen – große ästhetische Nähe mit den zuzeiten allgegenwärtigen, „ungestalteten“ Brachflächen aufwiesen.
Mit frühen Versuchen zu Fassaden- und Dachbegrünungen und Regenwasserbewirtschaftung im unmittelbaren Kontext des Wohnumfeldes sind viele jener Fragestellungen angerissen, die uns heutzutage als resilienter Stadtumbau im Angesicht der Klimakrise dringlich erscheinen. Solche gestalterischen und baulichen Ansätze, aber auch die stadtweit umgesetzten ökologischen Biotopkartierungen oder die Erstellung eines detaillierten Umweltatlasses bilden die systematische, gemeinsame Basis der Erforschung, Erfindung und Gestaltung einer gelebten Stadtnatur, von der Berlin heutzutage – mit viel Vorlauf im Vergleich zu anderen Städten – zu profitieren scheint. Jenseits von Funktionen oder Typologien ist in Berlin in Zusammenarbeit verschiedenster Akteure eine lebendige Mischung öffentlicher Freiräume entstanden. Vom einzelnen Experiment ist diese Freiraummischung zu einem charakteristischen, alltäglichen Teil des Berliner Stadtlebens geworden.
Gut dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer befindet Berlin sich in einer Situation in der einerseits ein hoher Grad an Selbstverständlichkeit der Gegenwart und Nutzung von Stadtnatur erreicht zu sein scheint. Andererseits befindet sich die Stadt inmitten einer beschleunigten Entwicklungsdynamik durch erheblichen Bevölkerungszuwachs. Damit verändert sich unabdinglich die urbane Struktur Berlins, die freie Flächen werden weniger und die öffentlichen Freiräume unterliegen einer neuen – auch sozialen – Ökonomie. In dieser Situation ist es wichtig sich der aussergewöhnlichen Qualität und Potenziale der Berliner Kultur gelebter Stadtnatur bewusst zu sein und sie zu wahren.
Thilo Folkerts, 12/2022 (unveröffentlichte deutsche Fassung)
Bibliographie:
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